„Mundanastrologie“
Seit der Antike wird versucht, aus Planetenstellungen Prognosen für gesellschaftliche oder globale Ereignisse herzuleiten und Zusammenhänge zwischen Planetenkonstellationen und Naturerscheinungen herzustellen. Auch heute noch sind sogar in astrologischen Fachzeitschriften Darstellungen derartiger Themen anzutreffen. Sie nehmen dort einen recht breiten Raum ein. Erdbeben und andere Naturkatastrophen, Unglücksfälle aller Art, Terroranschläge, politische und wirtschaftliche Vorgänge oder auch die Entwicklung von Börsenkursen werden zu Planetenkonstellationen in Beziehung gesetzt. Ernsthaft wird die Sicherheit eines Staudamms in Abhängigkeit vom Zeitpunkt seiner Grundsteinlegung, seiner „Geburt“, erörtert. Auch das Datum der Einführung des Euro gilt als dessen „Geburt“, und spätere Probleme mit der Währung werden mit Transitaspekten von Planeten zum „Geburtshoroskop des Euro“ zu erklären versucht.
Beim Lesen derartiger Texte verspüre auch ich als halbwegs toleranter Mensch einen Impuls, sie mit dem Gedanken Aberglaube einer Kategorie suboptimale Manifestationen cerebraler Aktivität zuzuordnen und sie zu ignorieren. Da es aber offensichtlich sowohl ein Publikum dafür gibt als auch Astrologen, die sich damit beschäftigen, und da dieser Unsinn einen schwerwiegenden, berechtigten Kritikpunkt an der Astrologie darstellt, überwinde ich meinen Widerwillen und gehe darauf ein.
Gegenstand der Astrologie sind Einflüsse von Materie und von geometrischen Verhältnissen auf die Funktionalität recht hoch entwickelter Lebewesen. Eine annähernd vergleichbare innere Funktionalität von Steinen, Kontinentalplatten, Hurrikans oder Flugzeugelektronik ist demgegenüber nicht vorhanden. Ohne uns in Spekulationen über materiell-astrologische Zusammenhänge zu ergehen, können wir direkt unterstellen: Es gibt keine Beeinflussung unbelebter Materie, die mit der Beeinflussung der Funktion von Lebewesen vergleichbar ist. Steine, Metalle oder die elektromagnetischen Felder vor einer Blitzentladung sind in einem sehr allgemeinen Sinn vielleicht nicht „tot“, ganz sicher aber leben sie auch nicht.
Es ist daher völlig und uneingeschränkt abwegig, Beziehungen zwischen dem Datum der Grundsteinlegung eines Bauwerks und seinem „Schicksal“ herzustellen. Astrologische Effekte beeinflussen Menschen, jedenfalls aber die komplexe Funktionalität von Lebewesen. Wenn also ein Bauwerk zusammenbricht, liegt das sicher nicht am Datum seines Baubeginns, sondern allenfalls an Fehlern der Bauingenieure, Architekten und Statiker. Von diesen kann vielleicht der eine oder andere durch ungünstige Transiteinflüsse während der Planung oder auch Durchführung des Baus zu Fehlern provoziert werden. Diese entscheiden aber nicht über das Datum der Grundsteinlegung.
Es ist ebenso absurd und lächerlich, Erdbeben zu astrologischen Effekten in Beziehung zu setzen. Die Kontinentalplatten sind in permanenter Bewegung und bauen dabei Spannungen auf, die sich irgendwann entladen. Wenn Himmelskörper darauf Einfluss nehmen, dann nicht über die Astrologie, sondern allenfalls über die Gravitation. Es ist vielleicht denkbar, dass es drei Tage früher zu einem Erdbeben kommt, wenn die entstandene Spannung zwischen den Platten so groß ist, dass eine Konjunktion von Sonne, Mond und Venus mit ihrer äußerst geringfügigen Veränderung von Gravitationsfeldern ausreicht, um als Auslöser fungieren zu können. Die Erde bebt dadurch vielleicht tatsächlich etwas früher. Das hat dann aber absolut nichts mit Astrologie, sondern eben nur mit der Schwerkraft zu tun.
Wenn ein Venus-Neptun-Trigon beim Menschen musikalische Einfälle fördern kann – was ist das Äquivalent beim Gestein? Die Nuancierungen der Geräuschentwicklung beim Erdbeben? Oder, allgemeiner, die transzendental bedingte Tendenz zur Harmonisierung intraterrestrischer Dissonanzen? Erdbeben als metaphysische Kompositionen?
Die Astrologie betrifft Lebewesen. Obwohl das so ist, ist es dennoch mehr als gewagt und fragwürdig, eine Beziehung zwischen Astrologie und kollektiven Ereignissen und Entwicklungen herzustellen. Sicher besteht jede Gruppe aus Menschen, von der Skatrunde bis zur Gesamtbevölkerung der Welt. Jeder einzelne von ihnen unterliegt astrologischen Einflüssen, und diese bedingen zumindest in kleineren Gruppen Wechselwirkungen zwischen ihren Mitgliedern. Eine „astrologische Gleichschaltung“ größerer Gruppen aber ist undenkbar. Eine gleichgerichtete Reaktion vieler Menschen ist infolge massenpsychologischer Effekte möglich, nicht aber aus astrologischen Gründen. Denn dazu müssten übereinstimmende Geburts-Teilkonstellationen bei einem großen Teil aller Beteiligten vorliegen. Das aber ist ausgeschlossen.
Aufgrund der unterschiedlichen Ausgangsstrukturen, der individuellen Geburtskonstellationen, wirken sich auch aktuelle Stellungen der Planeten individuell unterschiedlich aus. Nur für eine Minderheit bedeutet Jupiter auf 20° Waage einen Transit über die Geburtssonne, und eine Sonne-Mond-Opposition, die Vollmondphase, hat eine Wirkung vornehmlich auf die, bei deren Geburt eine solche Opposition, eine Konjunktion oder auch ein Quadrat zwischen Sonne und Mond vorlag. Es ist daher auch nicht möglich, dass beispielsweise der grundlegende Umschwung eines Börsentrends durch eine aktuelle Konjunktion Jupiters mit Pluto gefördert wird. Diese Konjunktion kann sich allenfalls auf diejenigen auswirken, bei deren Geburt ein recht genauer Hauptaspekt zwischen den beiden Planeten bestand, oder bei denen die aktuelle Plutostellung zufällig einen Transit über die Geburtsstellung Jupiters bedeutet, etc. In jedem Fall handelt es sich aber um eine Minderheit.
Kein ein größeres Kollektiv betreffender Vorgang kann astrologisch beeinflusst werden. Wenn also auf der Grundlage des Horoskops eines Kanzlerkandidaten und für ihn aktuell relevanter Transite über den Ausgang einer Bundestagswahl spekuliert wird, ist das nicht angewandte Astrologie, sondern unfreiwillige Komik infolge missratener Gehirnaktivitäten.
Die Astrologie kann nur für Kleingruppen relevant sein, weil die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern und damit die Gruppendynamik durch sie beeinflusst werden. Dabei handelt es sich dann aber ebenfalls nicht um kollektive Wirkungen, sondern um Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Personen. Diese sind aber nicht Gegenstand der „Mundanastrologie“.
Bei dieser handelt es sich um ein Festhalten an einem antiken bzw. mittelalterlichen Welt- und Selbstverständnis. Der Mensch erscheint als Spielball unkontrollierbarer Gewalten, denen er nicht entrinnen kann. Überall soll ein vorgegebenes Schicksal am Werke sein, bestimmt von einem unverständlichen göttlichen Willen, der das Leben lenkt. Unzufriedenheit, Unsicherheiten und Ängste provozieren den Wunsch, diesen „Willen“ zu erkennen, um sich auf ihn einstellen zu können. Auch wenn die astrologisch gewonnenen „Erkenntnisse“ später nicht durch die Realität bestätigt werden – das illusionäre Gefühl, mit Hilfe der Astrologie eine gewisse Kontrolle über sein Leben zu gewinnen, lässt an diese Illusion glauben.
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